Landestheater Niederösterreich
2015
Familienszenen
von Anna Jablonskaja
Premiere am 14.03.2015
Regie: Sarantos Zervoulakos
Bühne und Kostüme: Raimund Orfeo Voigt
Dramaturgie: Julia Engelmayer
Mit Marion Reiser, Christine Jirku, Wojo van Brouwer, Helmut Wiesinger, Tobias Voigt, Simon Zagermann
Pressestimmen
"(...) Was ist schon auffällig an all den Verhaltensauffälligen in diesen "Familienszenen"? Die Mutter ist notgeil, so wie der Nachbar. Der Halbwüchsige ist pubertär verstockt. Die alte Witwe, die ein paar Stockwerke höher wohnt, ist ein wenig dement, und Opa Andrej, der neben sich auf dem Sofa ein Stalin-Porträt stehen hat, spricht gerne dem Wodka zu und gibt sich im übrigen abgeklärt-spöttisch und lebensweise. Regisseur Sarantos Zervoulakos setzt im Niederösterreichischen Landestheater in St. Pölten die Drehbühne in Bewegung. Alles wie genommen aus ukrainischen Privatwohnungen, was da an Sofas, Stehleuchten und anderen Dingen vorbei fährt (Ausstattung: Raimund Orfeo Voigt). Alles nur ein ganz klein wenig überdreht, so wie die Autorin der "Familienszenen" ihren Figuren eben auch nur einen kleinen Drall ins Durchgeknallte gibt. Ein Panoptikum, das jäh zum Pandämonium wird und sich zuletzt doch ganz spielerisch auflöst, ohne Mord und Totschuss. (...)
Zellkern der Hilflosigkeit
So grotesk diese "Familienszenen" daherkommen: Immer wieder finden die Figuren kurz zu sich und zum anderen. Berührend, wenn der Veteran und Nikolaj sich über ihre Soldatenvergangenheit austauschen. Zu seinem Sohn findet Nikolaj erst einen Draht, wenn er ihn ins Boxen einführt - und doch endet gerade diese Episode beinahe im Fiasko eskalierender Gewalt. Tragikomisch, wie der verstockte Junge auf ein Metallrohr eindrischt und Sergej - Nachbar, Liebhaber der Mutter und des vermeintlich bösen Buben Biologielehrer - hilflos über die Zellkerne von Zwiebelhäuten referiert.
Das Zurücknehmen der Emotionen, die jähe Aufrichtigkeit hat der Regisseur und haben seine Schauspieler gut im Griff: Simon Zagermann ist Nikolaj, vor dem man sich nicht (oder gerade?) fürchten muss, weil er den Rohling nur aus Verunsicherung spielt. Marion Reiser (Irina) muss ihr Unglück vielleicht ein wenig lautstark und andauernd beheulen. Christine Jirku und Helmut Wiesinger sind die beiden Alten: ur-sympathische Fossilien einer vergangenen Gesellschaftsordnung, die sie nicht gebrochen, sondern gestählt hat. Das lässt sie mit einer gewissen spöttischen Distanz aufs Heute und seine Tragödien blicken. (...)"
Aus Ohne Krieg kein Gegner (www.nachtkritik.de vom 14.03.2015)
von Reinhard Kriechbaum
"(...) Welch ein Verlust ihr Tod für die russische Literatur ist, kann man im Landestheater Niederösterreich erahnen. Dort hatte ihr Familiendrama (Deutsch von Olaf Kühl) unter der Regie von Sarantos Zervoulakos soeben Premiere. Der absurde, aberwitzige, tieftraurige Text wurde mit Empathie und auch Routine umgesetzt. (...)
Eingangs kommen alle sechs Personen zum Gruppenbild auf die Bühne und stellen sich vor. Dann beginnt sich die Bühne zu drehen, in zwei Stunden lernt man eine modisch hässliche, eine zugemüllte und eine elegante alte Wohnung sowie einen leeren Sportplatz kennen. Auf einer großen Wand mit billigem Holzfurnier im Hintergrund hat Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt rechts am Rande kleine Ikonen und Lichtlein platziert - postsozialistischer Realismus mit leichten Andeutungen orthodoxer Folklore.(...)
Irinas und Nikolajs Sohn Wanja (Wojo van Brauwer), ein Teenager, der meist stumpfsinnig mit einem Stock auf ein Metallrohr drischt, wirkt wie die reduzierte, aber nicht minder verstörende Kopie des Vaters. Helmut Wiesinger spielt gemütlich einen trinkenden Veteranen, dieser Opa hält ein Bild von Stalin in Ehren, er wirbt zudem um eine ältere Dame (Christine Jirku), die ebenfalls die Vergangenheit verklärt. Beide Charakterrollen sind mit Spielwitz und leichter Übertreibung angelegt. Wenn sich der Kriegsheimkehrer mit dem Opa unterhält, scheint das seine Probleme zu lindern. Starke Momente hat diese Inszenierung auch, wenn Vater und Sohn sich näherkommen. Da reden sie aber über Waffen oder über Selbstverteidigung. (...)
Jablonskajas Stück nährt keine Illusionen: Die Welt ist beschädigt, die Aussicht auf Heilung scheint minimal. (...)"